von Warin
Die Osterfeiertage standen vor der Tür. Seit Jan und Marcel in die gemeinsame Wohnung gezogen waren hatte sich der Kontakt zu ihren Familien mit der Zeit erheblich reduziert. Keiner der beiden war stolz über diese Tatsache. Es war jedoch ein Zusammenspiel vieler Faktoren. Während Marcels Familie über seine Lebens- situation und persönlichen Wünsche bestens informiert waren, so gestaltete sich diese Thematik bei Jan etwas schwieriger. Es war ihm unangenehm, aus nachvoll- ziehbaren Gründen.
Während normalerweise Kontakt hauptsächlich telefonisch bestand, so war ein Be- such über die Feiertage unumgänglich.
Aiden hatte ihnen geholfen Kleidung zu beschaffen, sodass sie trotz ihrer kaum zu bändigen Körper halbwegs vernünftig aussehen würden. Der erste Halt war Jans Oma. Aiden parkte wenige Meter vom Haus entfernt.
„Bist du bereit Jan.“
„So bereit, wie man sein kann.“, er lehnte sich zu Marcel hinüber und gab ihm einen flüchtigen Kuss. „Richte ihnen Grüße aus.“
„Mach ich. Bis heute Abend.“
Jan wuchtete sich aus dem Auto heraus und machte sich auf den Weg zu seinem Ziel. Zum Glück waren es wirklich nur wenige Meter, doch auch diese waren an- strengend genug. Manchmal fragte sich Jan, wie lange er dies noch tun könnte. Irgendwann würde er mit der Wahrheit herausrücken müssen, so sehr es ihm auch wehtat. Doch heute würde dieser Tag nicht sein.
Das Alter des Hauses war offensichtlich. Das alte Gemäuer hatte definitiv die bes- ten Jahre bereits hinter sich. Das wesentlich schlimmere waren die Treppen, die sich vor Jans Füßen erstreckten. Es waren nur sechs Stufen. Dennoch waren sie jedes Mal eine Herausforderung, bei der er nicht wusste, ob er in der Lage war diese zu bewältigen. Von Besuch zu Besuch wurde es immer schlimmer.
Er lehnte sich zunächst an die kleine Mauer neben dem Geländer an, um sich kurz von dem Fußmarsch zu erholen. Währenddessen erblickte er auf der anderen Strßenseite mehrere Kinder, die zu spielen schienen. Von kindlichem Frohsinn erfüllt sprangen sie herum und fuhren mit ihren Fahrrädern. Sichtlich hatten sie Freude an der Bewegung. Dennoch beobachtete Jan etwas, dass ihn für einen kurzen Mo- ment fassungslos werden ließ. So viel Spaß die Kinder auch zu haben schienen erkannte er, dass der Schein trügerisch war. Es sah nur auf den ersten Blick aus, als würden sie sich voller Freude vollkommen verausgaben. Er konnte erkennen wie ein Kind nach dem anderen in unregelmäßigen Abständen von wenigen Minuten innehielt, um eine Pause einzulegen. Er sah ihre roten Gesichter und wie sie schwer atmeten. Ausnahmslos Jedes der Kinder war übergewichtig. Beim Klettern an einem Baum wirkten sie unbeholfen und schafften es nicht mal auf den Ast.
An diesem Punkt wurde Jan erneut klar, dass auch eine Gesellschaft, welche sich von den Schönheitsidealen der Schlankheit gelöst hat, viele Gesichter trug und nicht alle davon waren schön anzusehen. Kinder die bereits in so jungem Alter mit ihrem Gewicht kämpften. Von klein auf mit einer positiven Einstellung zur Völlerei und Zuneigung zu fettigem und süßem Essen herangezogen, würden sie kaum in der Lage sein dieses Verhalten zu ändern oder gar abzulegen. Auf diese Weise erschienen sie ihm beinahe hilflos ihrer Zukunft ausgesetzt. Sie würden sich wei- ter-hin ernähren, wie sie es gelernt hatten. Unkontrollierbar stetig an Gewicht zu- legen. Mit steigendem Alter, noch längst bevor sie Erwachsen sind, immer Träger werden. Die Gesellschaft zog sich, wie Jan soeben erkannte, die Gene-ration der Superdicken heran. 325 Kilo in Jans jungem Alter. Bald vielleicht eher Regel als Ausnahme.
Er wich von dem Anblick ab und betrachtete sich selbst. Er war selbst ein Teil dieser verfettenden Gesellschaft. Der entscheidende Unterschied war jedoch, dass er sich selbst dazu entschloss und es nicht die Folge aufgezwungener Normen war.
Keine Frage, Jan war zufrieden mit seinem Leben, das er gewählt hatte. Er liebte seinen Körper und das Essen. Dennoch war es ihm wichtig die gegebene Normalität kri-tisch zu hinterfragen. Kein Mensch sollte gezwungen sein Gegebenheiten ein- fach hinzunehmen, ohne eine eigene Meinung zu haben.
Mit Mühe befreite er sich von diesen Gedanken, immerhin wartete seine Oma be- reits. Die Füße Taten weh vom Stehen, doch seine Atmung war wieder ruhig ge- worden. Beste Voraussetzung die Treppe in Angriff zu nehmen.
Er setzte den rechten Fuß auf die Stufe und griff mit beiden Händen nach dem Geländer. Noch einmal atmete er tief durch ehe er sich mit dem anderen Fuß vom Boden ab-drückte und zugleich versuchte die Arme anzuziehen. Er war sich sicher, dass es für andere ein kurioser Anblick sein musste. Es fühlte sich an, als würde sein Körper sich in Zeitlupe bewegen. Er fühlte die Last, die seine speckumantelten Arme versuchten, die Stufen hinaufzuziehen. Schließlich unter großer Anstrengung hatte er die ersten drei Stufen geschafft. Nun war er abermals außer Atem und hätte am liebsten nochmals eine Pause gemacht. Doch er konnte seine Oma nicht länger warten lassen. So nahm er seine ganze Kraft zusammen und erklomm auch die letzten drei Stufen. Jan war sich nun sicher. Laufen war anstrengend, ohne Frage, doch Treppen steigen war mittlerweile eine kaum aushaltbare Qual gewor- den.
Mit knallrotem Gesicht und schwer keuchend stand Jan vor der Tür. Er konnte sich kaum noch halten. Doch so konnte er sich nicht zeigen. Er versuchte sich ein wenig zu beruhigen, ehe er klingelte.
Es dauerte einen Moment, bis die Tür sich quietschen öffnete und eine zierliche kleine alte Dame preisgab. Ihr Gesichtsausdruck strahlte Freude über den Besuch aus.
„Hallo Jan mein Schatz, komm rein. Ich bin froh dich zu sehen.“
Noch bevor er etwas sagen konnte umarmte sie ihn innig, so gut es ihr möglich war jedenfalls. Nach einigen Sekunden löste sie sich von ihm. Mit einem kritischen Blick beäugte die weißhaarige Dame ihren Enkel.
„Hast du wieder zugenommen?“
Jan schmunzelte. „Nein Oma, ich sagte doch ich halte mein Gewicht.“ Diese Lüge schmerzte mehr als das Gewicht auf seinen Knochen, doch die Wahrheit würde der Person, die ihn großgezogen hat das Herz brechen.
„Du hast recht, vermutlich bilde ich mir das nur ein. Geh doch schon mal ins Wohn- zimmer. Ich habe uns Kuchen gebacken. Du kannst dich ja in den Sessel setzen.“
„Du weißt doch Oma, dass ich das nicht kann.“
„Ach ja, tut mir leid ich vergaß.“ In diesem Moment huschte ein Ausdruck tiefster Trauer über ihr Gesicht.
Jan ging bereits ins Wohnzimmer, er konnte es kaum erwarten endlich seine Füße zu entlasten. Es gab so viele Erinnerungen an dieses Haus. Er hatte das Gefühl, als würde hier die Zeit stillstehen. Nichts hatte sich verändert. Derselbe massive Holztisch. Der gleiche schwarze Sessel und dieselbe alte Couch wie immer. Jans Eltern kamen kurz nach seiner Geburt bei einem schweren Autounfall ums Leben. So verbrachte er seine Kindheit bei seiner liebevollen Oma.
Er setzte sich auf das Sofa. Unverzüglich setzte ein Ge-fühl von Entspannung ein. Neben ihm wäre es nicht möglich gewesen, dass sich eine weitere Person auf das Sofa setz-te. Sein Körper beanspruchte es zur Gänze. Gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches stand der schwarze Sessel, von dem seine Oma soeben sprach. Er gehörte seinem Opa. Sie konnte sich bisher nicht dazu überwinden ihn zu ent- sorgen oder auch nur wo anders hinzustellen, obwohl der Tod von Jans Opa schon einige Jahre her war.
Wenn Jan an früher zurückdachte sah er einen lebensfrohen gutherzigen Mann. Diese schöne Erinnerung trübte sich je-doch schnell. Jans Opa erlitt einst einen schweren Herz-infarkt. Obwohl er ihn überlebte war er seit diesem Tage nicht mehr dieselbe Person. Er zog sich immer weiter zu-rück. Aufgrund seines gesundheitli- chen Zustandes war es ihm auch nicht mehr möglich Arbeiten zu gehen. Ab diesem Zeitpunkt wich die Lebensfreude, für die er bekannt war.
In den letzten Erinnerungen, die Jan an ihn hatte, saß er immer auf diesem Sessel. In den letzten Monaten seines Lebens hatte er sich kaum von diesem wegbewegt. Er saß Tage und Nächte dort. Meist mit Essen oder trinken beschäftigt. So war es auch der Ort an dem er starb, nach-dem er kaum noch in der Lage war seinen massigen Körper zu erheben.
Traurigkeit überfiel Jan, so bemühte er sich diese Erinnerungen wegzuschieben. Es fiel ihm jedoch schwer. Tatsache war jedoch, dass er nicht in der Lage gewesen wäre dort zu sitzen. Sein Opa mochte zwar dick gewesen sein, doch Jan war weit- aus schwerer, als dieser es war. Selbst mit hundert Kilo weniger auf den Rippen zweifelte er da-ran, dass es möglich gewesen wäre.
Seine Oma stellte einen Teller mit einem großen Stück Kirsch-Streusel Kuchen vor ihn auf den Tisch, geziert mit einer dicken Sahneschicht. So sehr sie das Körper- gewicht ihres Enkels zu belasten schien, wusste sie ihm eine Freude zu machen.
Jan genoss jeden einzelnen Bissen. Noch nie in seinem Leben hatte er besseren Kuchen als den seiner Oma gegessen.
Sie unterhielten sich lange. Nach einem etwas schwierigen Einstieg gelang Jan es auch erfreulichere Themen anzusprechen und seine Oma gelegentlich zum Lachen zu bringen. Ihm war klar, dass er sie öfter besuchen müsste und noch öfter anrufen sollte. Das Leben ist ungerecht, niemand konnte wissen wie lange das noch mög- lich war. Seine Oma würde nicht jünger und er nur unwahrscheinlich leichter wer- den.
Die Zeit verging bei guter Laune wie im Flug. Irgendwann stand sie auf und nahm die Teller. „Ich werde euch den Rest einpacken. Ich nehme an Marcel würde sich auch über ein Stück freuen.“
„Vielen Dank Oma, da bin ich mir sicher.“
Sie verschwand in der Küche. Jan wartete diesen Moment ab, ehe er versuchte aufzustehen. Er wollte nicht, dass sie sah, welch große Anstrengung das für ihn war. Die Ge-ringe Höhe des Sofas machte es zudem nur noch schwieriger. Mit Schwung und Abstützen gelang es ihm jedoch.
Es waren so viele Gedanken und Erinnerungen, die in seinem Kopf herumschwirr- ten. So kam Jan auf die Idee sich nochmals sein altes Kinderzimmer anschauen zu wollen.
Er wanderte durch einen Flur, welcher ihm erschreckend wenig Platz bot bis hin zur gesuchten Tür. Vorsichtig öffnete er sie. Was er zu sehen bekam überraschte ihn kaum. Nichts hatte sich verändert. Es war noch alles genauso wie an dem Tag seines Auszuges. Gerne wäre er hin-eingegangen, doch es war nicht möglich. Das alte Haus hatte keine breiten Türen. Es gab keine Chance hindurch-zukommen. Selbst seitlich und mit Luft anhalten kam er nicht weit.
Als Jan die Stimme seiner Oma vernahm schloss er die Tür und machte sich auf den Weg zu ihr. Sie drückte ihm eine Dose mit dem restlichen Kuchen in die Hand.
„Lass bitte öfter von Dir hören.“
„Das werde ich, versprochen.“
Sie verabschiedeten sich und Jan trat hinaus. Das Hinab-steigen der Treppen war ebenfalls alles andere als angenehm, jedoch wenigstens halbwegs erträglich. Hier- bei waren es eher die Schmerzen, als die Anstrengung, die ihm zu schaffen mach- ten.
Unten angekommen warf er nochmals einen Blick hinüber zu den Kindern. Sie saßen nun mit einigen Erwachsenen im Vorgarten, gemeinsam an einem großen Tisch. Aus dem Haus kam eine Frau mit einem Stapel brauner, flacher Kartons. Ganz klar handelte sich dabei um Pizzakartons. Die Klei-dung der Frau spannte und durch die Bewegung rutschten sie. Auf diese Weise gaben sie mehr frei, als ihr wahrscheinlich lieb war. So konnte man ihren schweren hängen-den Bauch sehen und dicke Speckringe am Rücken. Ihr Gang war watschelnd und sichtlich anstrengend. Hinter ihr trat ein Mann heraus. Dieser trug eine kurze schwarze Hose, die unter seinen Fettmassen verschwanden. Am Oberkörper zeichnete sich ein großer Bauch ab, der überhing und den-noch fest zu sein schien, beinahe als hätte er eine Müll-tonne verschluckt. Er ging an der Hauswand entlang, als könne er sich kaum auf den Beinen halten.
Die Frau hatte inzwischen die Pizzen auf den Tisch gestellt. Die Meute begann mit dem Essen. Hektisch, als ginge es um Leben und Tod verschwand ein Stück nach dem anderen in den Mündern. Sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern.
Der Mann erreichte nun auch den Tisch und setzte sich. Dabei rutschte das T-Shirt hoch und Jan konnte genau sehen, wie der Speck sich beim Hinsetzen ausbreitete. Die Hose war nicht in der Lage in dieser Position sein Gesäß zu verbergen. Links und rechts quoll alles über.
Und da saßen sie. Eltern und Kinder mit Begeisterung am Essen und verfetten. Dieser Anblick machte Jan heiß. Er selbst kannte das und stand auf das was er sah. Doch zu-gleich erschien es ihm furchtbar erschreckend.
Plötzlich hielt nur wenige Schritte neben ihm ein Auto. Es war seine Mitfahrgelegenheit.
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